Unser Standpunkt
»Lernt, wann und wo Ihr wollt. Hauptsache, die Leistung stimmt!«
Wie sich indirekte Steuerung in der betrieblichen Weiterbildung ausbreitet
Wie sich indirekte Steuerung in der betrieblichen Weiterbildung ausbreitet
Eine kurze Lerneinheit zu Controlling in der S-Bahn, Basiswissen über Blended Learning zwischen zwei Videocalls und ein Podcast zu agilen Methoden beim Joggen – betriebliche Weiterbildung wird für Beschäftigte zunehmend zur Privatangelegenheit. Sie bestimmen selbst, wann und wo sie sich weiterbilden. Warum das lediglich gut klingt, aber nicht gut ist, erklärt KI-Projektleiter Walter Lochmann.
Während der Corona-Pandemie hatten digitale Lernformen zweifellos Vorteile. Jede*r lernte unabhängig von vorgegebenen Zeiten und Orten und ohne Ansteckungsrisiko. Der Austausch erfolgte über Lernplattformen. Das war auch für Arbeitgeber interessant: E-Learning-Angebote sind kostengünstiger als Weiterbildung in Präsenz.
Was anfangs als praktische Lösung erschien, entpuppt sich jetzt als nachteilig für die Beschäftigten. Und das in mehrfacher Hinsicht: Unternehmen und Lernende sehen sich einer unüberschaubaren Vielfalt von Online-Angeboten gegenüber. Es fehlt an Orientierungshilfen, Qualitätskriterien und verlässlichen Gütesiegeln oder Zertifikaten, um die Qualität der Angebote zu überprüfen.
Arbeitgeber delegiert Verantwortung an Beschäftigte
Unternehmen bedienen sich in diesem unübersichtlichen Markt und stellen den Beschäftigten Lerninhalte im Intranet zur Verfügung. Die Verantwortung für die eigene Weiterbildung wird somit auf die Beschäftigten abgewälzt. Das Motto lautet: »Lernt, wann und wo Ihr wollt. Hauptsache, die Leistung stimmt!« Damit hält indirekte Steuerung auch bei der betrieblichen Weiterbildung Einzug.
Der Arbeitgeber gibt nur noch das Ergebnis vor, das er von den Beschäftigten erwartet. Wie sie das erreichen, bleibt ihnen überlassen. Diese Entwicklung verstärkt den Trend des Arbeitskraftunternehmers/der Arbeitskraftunternehmerin, bei dem die Beschäftigten selbst dafür sorgen müssen, stets auf dem neuesten Stand zu sein und den Anforderungen des Unternehmens gerecht zu werden. Für die Rahmenbedingungen haben allerdings auch sie selbst zu sorgen, indem sie etwa ausreichend Zeit für die Lerneinheiten freihalten, eine lernförderliche Arbeitsumgebung schaffen und vieles mehr.
E-Learning befördert Ungleichheiten
Diese Form betrieblicher Weiterbildung verstärkt Ungleichheiten, da ältere, gering qualifizierte und befristete Beschäftigte seltener Zugang zu den Angeboten erhalten als gut qualifizierte Kräfte. Die ohnehin vernachlässigten Personengruppen werden noch stärker abgehängt, wenn sich Lernen auf eigenverantwortliches E-Learning beschränkt. Das sollten Betriebsratsmitglieder verhindern.
Diese Aufgabe erfüllen sie in der Regel gut. Denn mitbestimmte Betriebe tun insgesamt mehr für die Qualifizierung ihrer Beschäftigten als nicht mitbestimmte. Gibt es einen Betriebsrat, werden Weiterbildungen häufiger angeboten und mehr Beschäftigte nehmen daran teil. Das ist ein Ergebnis einer Studie von Serife Erol und Elke Ahlers vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Zudem übernehmen Arbeitgeber häufiger die Kosten der Weiterbildung und sorgen für Freistellungen.
Aber auch in mitbestimmten Betrieben muss mehr getan werden: Laut Betriebsrätebefragungen gaben nur knapp 48 Prozent der Betriebsratsmitglieder an, dass der Arbeitgeber die Beschäftigten bei der Weiterbildung ausreichend finanziell unterstützt. Und weniger als 40 Prozent erklärten, dass den Beschäftigten ausreichend Zeit eingeräumt wird.
Mehr als nur Wissensvermittlung
Gute betriebliche Weiterbildung zeichnet sich dadurch aus, dass die Kosten und Freistellungen übernommen werden. Das reicht aber nicht. Gute betriebliche Weiterbildung ist keine reine Wissensvermittlung, sondern lebt vom Austausch mit Trainer*innen und dem Austausch unter den Lernenden, von gemeinsamen sozialen Erfahrungen. Ein Beispiel: Wie ein Exoskelett richtig anzulegen ist, kann ein Videotutorial zeigen. Aber was beispielsweise mit den Daten passiert, die in der Tragezeit anfallen, ist eine Debatte wert: Erhält sie der Beschäftigte? Der Arbeitgeber? Oder gar die Herstellerfirma? Wer hat welches Interesse daran, die Daten auszuwerten? Das individualisierte E-Learning kann diesen Ansprüchen nicht gerecht werden.
Zudem besteht die Gefahr, dass bezahlte Freistellungen schleichend abgeschafft werden und Lernen in die Freizeit ausgelagert wird, wenn Beschäftigte selbst für ihre Arbeits- und Lernorganisation verantwortlich sind.
Angesichts des Fachkräftemangels und der besonderen Verantwortung von Betriebsräten für die vernachlässigten Personengruppen sollte Weiterbildung einen höheren Stellenwert erhalten. Betriebs- und Personalräte können systematisch vorgehen und zunächst die Beschäftigten nach ihren Bedarfen und Wünschen befragen. Auf dieser Basis würde mit dem Arbeitgeber eine Bildungsplanung erstellt. Jetzt sollten Interessenvertretungen dafür sorgen, dass die abgehängten Beschäftigtengruppen bevorzugt Angebote erhalten. Ja, auch Reinigungskräfte haben Weiterbildungswünsche und -bedarf, ob es um den richtigen Einsatz von Putzrobotern und Reinigungsmitteln geht oder um kräfte- und gesundheitsschonende Arbeitsweise. In Betrieben und Dienststellen, in denen alle die Gelegenheit zu Weiterbildung erhalten, steigt die Loyalität der Belegschaften – in Zeiten des Fachkräftemangels von großem Vorteil.