Die Technik wird’s schon richten – Vom Glauben an Problemlösungen durch Algorithmen und Big Data
Unser Standpunkt
Unser Standpunkt
Fliegende Taxis lösen Verkehrsstaus. Rechtsprechung funktioniert besser, wenn sie nur mit der richtigen Software durchgeführt wird. Und falls die Klimakrise die Erde unbewohnbar macht, kann sich die Menschheit auf dem Mars einrichten. Die Ideen sind nicht neu. Was sie eint, ist die Überzeugung, dass es für jedes Problem – von Arbeitslosigkeit bis Pandemie – eine technische Lösung gibt. Was ein solches Denken für die Gesellschaft bedeutet und was das mit der Arbeitswelt zu tun hat, erklärt Technologieberater Markus Rhein.
»Neulich habe ich einem Freund begeistert eine App gezeigt. Damit behalte ich alle meine Reisen im Blick: QR-Codes der Tickets, Hotelreservierungen, Wettervorhersagen sowie Live-Meldungen zur Pünktlichkeit der Züge. Und das Ganze datenschutzfreundlich, ohne den Datenhunger der DB-Navigator-App. Seine Reaktion: »Und warum sollte ich so was brauchen?«. Die Frage machte mich kurz sprachlos. Ja, warum eigentlich?
Der Techniksoziologe Evgeny Morozov hätte vermutlich gesagt: »typischer Fall von Technik-Solutionismus«. So hat er die Überzeugung bezeichnet, dass sich nahezu jedes gesellschaftliche, politische oder ökologische Problem technisch lösen lässt. Die Versuchung des digitalen Zeitalters, schrieb er, bestehe darin, alles – von Verbrechen über Korruption und Umweltverschmutzung bis hin zu Adipositas – durch digitale Quantifizierung, Nachverfolgung oder Gamification von Verhalten zu lösen.
Technik-Solutionismus vertreten in Deutschland beispielsweise Politiker*innen, die auf technische Innovationen zur Lösung der Klimakrise setzen oder auf »hocheffiziente Verbrenner« statt auf das Zulassungsverbot CO2-ausstoßender Fahrzeuge ab 2035 in der EU.
Denken im Technik-Löse-Modus
Vieles spricht gegen Technik-Solutionismus. Zum Beispiel: Probleme werden nicht mehr von der Gesellschaft definiert, sondern durch Technik-Expert*innen. Statt Prozesse gemeinsam zu erörtern und auszuhandeln, erklärt eine Firma, um welches Problem es sich handelt und welches digitale Tool das Problem lösen wird. Übertragen auf die Arbeitswelt heißt das: Menschen sind nicht mehr Expert*innen ihrer Arbeit, sondern werden zu Nutzer*innen technischer Lösungen degradiert, die sich externe Expert*innen ausgedacht haben.
Das Denken im Technik-Löse-Modus hat sich inzwischen in vielen Unternehmen, Parteien, aber auch in unseren Köpfen festgesetzt. Ein Werbeslogan der FDP hat es auf den Punkt gebracht: ›Digitalisierung First, Bedenken Second‹.
Verlust an Einfluss
Lässt es eine Gesellschaft zu, dass zu einem technischen Problem gemacht wird, was das menschliche Miteinander betrifft, etwa wie wir Care-Arbeit/Sorgearbeit organisieren, verlieren Bürger*innen und Verbraucher*innen Einfluss und die Möglichkeit der Gestaltung. Im schlechtesten Fall werden Menschen zu passiven Konsument*innen technischer Lösungen, statt Probleme aktiv anzugehen. Und es lenkt den Blick weg von anderen als technikorientierten Lösungen.
Werden Techniklösungen von (Tech)Unternehmen entwickelt, denen die demokratische Legitimation fehlt und die ohne gesellschaftliche Beteiligung agieren, schwächt dies die Demokratie und befördert die Machtkonzentration der ohnehin übermäßig einflussreichen Unternehmen. Die Abhängigkeit vieler Unternehmen von US-amerikanischen Tech-Konzernen, wie sie aktuell existiert, ist ein großes Problem.
Kleinste Freiräume eliminiert
Was heißt das für die Arbeitswelt? Bei der Einführung von neuen Technologien in Arbeitsprozesse handelt es sich in den meisten Fällen um einen Angriff auf die Autonomie der Beschäftigten. Im Laufe der Zeit eignen sich Beschäftigte sogenanntes implizites Wissen über einen Arbeitsschritt an, der für sie die Arbeit leichter macht. Ein Beispiel: Nimmt ein*e Lieferant*in auf seiner*ihrer Tour eine bestimmte Route, weil er*sie weiß, dass eine Straße zugeparkt ist oder dort weniger Stau ist, erleichtert er*sie sich dadurch die Arbeit und macht sie effizienter. Dadurch schaffen sich Beschäftigte ein bisschen Freiraum in ihrem Arbeitsprozess. KI-Systeme zeichnen die Strecken auf, werten sie aus und spüren damit die Freiräume auf, die dann beseitigt werden.
Zweck der Technologien ist, Arbeitsprozesse so grundlegend zu verändern, dass diese Freiräume wiederum produktiv genutzt werden können. Ein anderer Ausdruck dafür ist ›Totzeiteliminierung«. Außerdem soll das ›Gold in den Köpfen der Beschäftigten‹ geschürft und das implizite Wissen für das Unternehmen verwertbar gemacht werden.
Das hat zur Folge, dass die Kolleg*in vielleicht austauschbar wird, weil der Prozess automatisiert werden kann, oder jemand anders erhält digital Anweisungen, wie der Prozess abzulaufen hat. Durch künstliche Intelligenz wird diese Dynamik noch einmal verschärft. Künstliche Intelligenz bringt eine nicht-menschliche Instanz ins Spiel, der wir Objektivität zuschreiben und die dadurch als nahezu unfehlbar gilt.
Digitaler Despotismus
Die Soziologin Sabine Pfeiffer bezeichnet die Entwicklung in der Arbeitswelt als ›digitalen Despotismus‹. Sie beschreibt eine neue Form von Kontrolle in der Arbeitswelt, die durch digitale Technik möglich wird. In Betrieben übernehmen zunehmend Computerprogramme, Algorithmen oder Apps Aufgaben, die früher von Menschen erledigt wurden. So zum Beispiel das Planen von Arbeitszeiten oder das Zuweisen von Aufgaben. Entscheidungen, die zuvor von oder mit Beschäftigten oder durch Vorgesetzte ausgehandelt wurden, werden automatisiert und durch Maschinen vorgegeben. Beschäftigte müssen sich an diese Vorgaben halten und haben kaum noch Einfluss auf den Ablauf ihrer Arbeit.
Gleichzeitig wird von ihnen erwartet, dass sie flexibel, immer erreichbar und jederzeit leistungsbereit sind – oft auch außerhalb der normalen Arbeitszeit. Durch Homeoffice, mobile Geräte und ständige Online-Kommunikation verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Viele Menschen empfinden das als stressig und fühlen sich kontrolliert, ohne genau zu wissen, wer die Kontrolle ausübt.
Technik zur Steuerung und Kontrolle
Die Technik wird also nicht vor allem genutzt, um die Arbeit zu erleichtern, sondern um Beschäftigte stärker zu steuern, sie enger zu kontrollieren, ihnen Entscheidungen abzunehmen und sie an ein System anzupassen, das auf ständige Leistung ausgerichtet ist.
Dazu kommen Unternehmen, die dem KI-Hype aufsitzen und denken, wenn sie jetzt nicht schnell ein Large Language Model einführen, verpassen sie den Anschluss und lassen sich Produktivitätsgewinne entgehen. In Studien wurde jedoch nachgewiesen, dass die großen Sprachmodelle das Vermögen, kritisch zu denken und Inhalte genau zu prüfen, schmälern. Ebenso hat eine Studie aus Norwegen gezeigt, dass der Einsatz dieser Technologien keine nachweisbaren Produktivitätszuwächse bringt.
Technik hinterfragen
Betriebsrät*innen sind gut beraten, Fragen zu stellen. Technik ist nicht alternativlos. Denn oft sollen Probleme wie Personalmangel durch KI-Anwendungen oder Automatisierung gelöst werden. Stattdessen wären möglicherweise Qualifizierungen oder eine andere Personalentwicklung sinnvoller. Oder Unternehmen versprechen Beschäftigten mit einer neuen Technologie mehr Flexibilität und eine größere Selbstorganisation. Tatsächlich gehen technische Anwendungen mit zunehmender Entgrenzung von Arbeit, Überwachung und Kontrolle einher und verlagern Verantwortung und Steuerungslast auf die Beschäftigten. Mit echter Autonomie hat das wenig zu tun.
Oft stoßen Unternehmen Digitalisierungsprozesse an, bringen große Projekte an den Start und investieren viel Geld, um sich als modernes, technologieoffenes Unternehmen zu präsentieren. Dabei gerät aus dem Blick, dass das Alleinstellungsmerkmal womöglich der qualifizierte Kundenservice ist.
Rechte von Betriebsrät*innen
Demokratisch gewählte Interessenvertretungen haben das Recht, technische Entwicklungen im Interesse der Beschäftigten mitzugestalten. Hilfreich ist, sich frühzeitig mit der Frage auseinanderzusetzen: Welche Technik wollen wir? Und zu welchen Bedingungen?
Arbeitgeber müssen Betriebsrät*innen nach § 90 Abs. 1 Nr. 2+3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) bereits bei der Planung informieren. Mögliche Fragen könnten sein:
Betriebsrät*innen sollten Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen (nach § 5 Arbeitsschutzgesetz) bei Einführung neuer digitaler Systeme und Prozesse einfordern und in regelmäßigen Abständen wiederholen.
Ob New Work, agiles Arbeiten oder mobiles Arbeiten/Homeoffice – Regelungen müssen Beschäftigte vor ständiger Erreichbarkeit und entgrenzter Arbeitszeit, vor Überlastung und widerrechtlicher Nutzung ihrer Daten schützen.
Betriebsrät*innen sollten verstärkt ihre Mitbestimmungsrechte über technische Überwachungseinrichtungen nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG wahrnehmen.
Qualifizierung und Weiterbildung sollten in Betriebsvereinbarungen geregelt werden: Welche Lernzeiten werden gewährt? Welche Inhalte sind relevant? Profitieren alle Beschäftigtengruppen?
Damit Beschäftigte sich selbst darüber informieren können, ob und wie sie bewertet werden, brauchen sie das Recht, Bewertungen einsehen zu können.
Ums kurz zu machen: Denken First!«
Evgeny Morozov: To Save Everything, Click Here. The Folly of Technological Solutionism, PublicAffairs, 432 Seiten, 2014.
https://www.sabine-pfeiffer.de/vortraege
Pfeiffer, Sabine (2015): Warum reden wir eigentlich über Industrie 4.0? Auf dem Weg zum digitalen Despotismus. In: Mittelweg 36 24(6): 14-36.
Henner Gimpel u.a.: Belastungsfaktoren der digitalen Arbeit: Eine beispielhafte Darstellung der Faktoren, die digitalen Stress hervorrufen, Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT, März 2020 Download